1. Willekome, varender man! wo läge du hinaht? oder wo mitte wäre du bedaht? oder in welre hande wise bejageste kleider oder spise? 2. "Daz hestu gefraget einen man der dir es in ganzen truwen wol gesagen kan: mit dem himel was ich bedaht und mit den rosen was ich unbestaht, in eins stolzen knappen wise bejage ich kleider und spise." 3. Nu sage mir, meister Trougemunt, zwei und sübenzig lant die sint dir kunt: waz boumes birt ane blùt? waz vogel söiget sine junge? waz vogel ist ane zunge? waz vogel ist ane mage? kanstu mir des ützüt gesagen, so wil ich dich für ein weidelichen knappen haben. 4. "Des hestu gefraget einen man der dir in ganzen truwen wol gesagen kan: die queckolter birt ane blùt, der stork ist ane zunge, die fledermus söiget ihre junger, der swarbe ist ane magen, ich wil dirs in ganzen truwen sagen und fragestu mich ützüt mere, ich sage dir fürbaz an din ere." 5. Nu sag mir, meister Trougemunt, zwei und sübenzig lant die sint dir kunt: waz ist wisser denne der sne? waz ist sneller denne daz rech? waz ist höher denne berg? waz ist vinsterre den die naht? kanstu mir ützüt des gesagen, so wil ich dich für einen jegerlichen knappen haben. 6. "Des hestu gefraget einen man der dirs von grunde wol gesagen kan: die sunne ist wisser den der sne, der wint ist sneller den daz rech, der boum ist höher den der berg, die rame ist swerzer den die naht? doch wil ich dir in ganzen truwen sagen: fragestu mich ützüt mere, ich sage dir fürbaz an din ere." |
7. Nu sag mir, meister Trougmunt, zwei und sübenzig lant die sint dir kunt: durch waz ist der Rin so tief? oder war umbe sint frowen also liep? durch waz sint die matten so grüne? durch waz sint die ritter so küne? kanstu mir daz üt gesagen? so wil ich dich für ein stolzen knappen haben. 8. "Des hestu gefraget einen man der dirs wol gesagen kann: von manigem ursprunge ist der Rin so tief, von hoher minnen sint die frowen liep, von manigen würzen sint die matten grüne, [von maniger starken wunden sint die ritter küne] von grozen wunden sint die ritter küne; unde fragestu mich ützüt mere, ich sage dir fürbaz an din ere." 9. Nu sagent mir, meister Trougmunt, zwei und sübenzig lant die sint üch kunt: durch waz ist der walt so grise? durch waz ist der wolf so wise? durch waz ist der schilt verblichen? durch waz ist manig guet geselle von dem andern entwichen? kanstu mir daz üt gesagen, so wil ich dich han für ein weidelichen knaben. 10. "Daz hestu gefroget einen man der dirs von grunde wol gesagen kan: von manigem alter ist der walt grise, von unnützen gengen ist der wolf wise, von maniger starken herverte ist der schild verblichen, unnützen Sübichen ist manig guet geselle von dem andern entwichen." 11. Nu sage mir, meister Trougemunt, zwei unde sübenzig lant die sint dir wol worden kunt: waz ist grüne alsam der kle? waz ist wisser den der sne? waz ist swerzer den der kol? waz zeltet rehter den der vol? 12. "Daz hab ich balde gesaget dir: die agelster ist grüne alsam der kle unde ist wis alsam der sne unde ist swerzer den der kol und zeltet reht alse der vol; und fragestu mich ützüt mere, ich sage dir fürbaz an din ere." |
Das "Tragemundslied" gilt als das ältestes mhd. Rätselgedicht (13. Jh.), ein Dialog zwischen einem Fragesteller und einem mit "maister Trougemunt" Angeredetem. Es besteht aus fünf mal vier Rätselfragen und -lösungen in 83 Versen. Inhaltlich behandeln die Rätsel naturkundliche Merkwürdigkeiten, mythisch-sinnträchtige Naturerscheinungen und Moralisches. (Das Pseudonym Trougemunt ist über das mlat. dragomanus von dem arab. targuman = Ausleger, Erläuterer hergeleitet). |